Im viktorianischen Sprachgebrauch des 18. und 19. Jh. beschrieb der Begriff ‘Tantrismus’ die Andersartigkeit der indischen Kultur anhand einer Vielzahl unterschiedlicher Phänomene. Gegenwärtig, als Terminus in westlichen Kulturen verwendet, dient ‘Tantra’ als Begriffskategorie, welche unter anderem sexuelle Praktiken, monistische Weisheitslehren, Yoga, erotische Massagen, ‘ekstatische Rituale‘ und vieles andere als tantrisch definiert. Es besteht dabei keine einheitliche Begriffsdefinition. Wie jedoch der umfassende, als ‘tantrisch’ verstandene Bereich im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist, versucht das nachfolgende Essay anhand des u.g. Aufsatzes von Hugh B. Urban zur orientalistischen Konstruktion des ‘Tantrismus’ im 18., 19. und beginnenden 20. Jh. zu erläutern, um schließlich zu verdeutlichen, dass jegliche begriffliche Definition als menschliches Konstrukt, historisch, politisch, sowie soziokulturell geprägt und in stetem Wandel begriffen ist.
‘Tantrismus’ als ideelle Kategorie britischer Orientalisten und des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts
‘Tantrismus’ sei, so Urban, weitaus mehr als eine begriffliche Kategorie gewesen. Der orientalistische sowie kolonialistische Diskurs habe vielmehr den „Indischen Geist“ (vgl. Urban, 1999, S. 123) tendenziell zwischen leidenschaftlich und unmoralisch angesiedelt und dem rationalen, fortschrittlichen Westen gegenübergestellt. Deshalb sei, gemäß Urban, neben der vermeintlich orientalistischen Konstruktion die koloniale britische Vorstellung des ‘Tantrismus’, wie sie in Schriften und Romanen reflektiert wurde, zu betrachten. So sei Ende des 19. und im beginnenden 20. Jh. die sexuelle Komponente des Tantra ebenfalls durch den analytisch induzierten, sexuellen Diskurs seitens der britischen Kultur fokussiert worden und ‘Tantra’ wurde dazu auserwählt, als Projektionsfläche unterdrückter westlicher Sexualität zu dienen. Gemäß Urbans Darstellung wäre dies wohl auch heute noch der Fall, hätte der englischer Professor und Richter Sir John Woodroffe den ‘Tantrismus’ nicht mittels wissenschaftlicher Publikationen rationalisiert. Urban situiert den Begriff des ‘Tantrismus’ somit zwischen zwei Extremen: dem “viktorianischen Horrorszenario der tantrischen Sittenlosigkeit” und der rationalisierten „tantrischen Philosophie“ Woodroffes (vgl. Urban, 1999, S. 123).
‘Tantrismus’ als Kategorie
Der Autor gibt zu bedenken, das der Begriff des ‘Tantrismus’ synonym für eine schier unüberschaubare Anzahl religiöser Texte, Praktiken und Rituale des Hinduismus, des Jainismus und des Buddhismus sei. Ebenso verhält es sich mit dessen semantischer Interpretation. Wie dem auch sei, tantra ist Sanskrit und namensgebend für die „Tantrismus-Kategorie“ des 19. Jahrhunderts (vgl. Urban, 1999, S.123). Als ‘Tantra’ werden unter anderem tantrische Schriften bezeichnet, welche rituelle Instruktionen abbilden. Europäische Gelehrte hätten in diesen ‘tantrische’ Vorstellungen und Praktiken entdeckt und als solche definiert, so Urban. Der abstrakten Identität des Hinduismus gesellte sich innerhalb des orientalistisch Diskurses `’Tantrismus’ als weiteres Charakteristikum indischer Andersartigkeit zu. Nach Überzeugung Urbans reflektierte dieser die Überlegenheit europäischer Imperialisten, in Anbetracht des leidenschaftlichen, irrationalen, femininen, kolonialisierten Indiens. In selbiger Absicht sei der Begriff des ‘Tantrismus’ mit Attributen wie primitiv, unmoralisch oder degeneriert innerhalb des wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses belegt worden. Nach Auffassung Urbans sei Sir John Woodroffe alias „Arthur Avalon“ maßgebend in der Rationalisierung tantrischer Schriften gewesen und habe orientalistische Termini wie ‘Tantrismus’, ‘Shaktismus’ oder ‘Tantrashastra’ entschieden geprägt (vgl. Urban, 1999, S. 124). Indischer ‘Tantrismus’ sei, so Urban, durch die rationalisierte Darstellungsweise Woodroffes westlich domestiziert und somit die tantrische Philosophie dem westlichen Verständnis zugänglich gemacht worden.
Der Begriff ‘Tantra’
Tantra erscheint bereits in den Veden (veda) und bezeichnet beispielsweise die Schlussfolgerung (siddhanta), eine Sammlung von shruti (shrutisakha) oder bestimmte rituelle Pflichten (itikartavyata). In den frühesten Erscheinungen des Rg Veda (X.71.9) sei mit tantra (tan Skrt. weben; strecken) hingegen eine Art Webstuhl gemeint. Westliche Autoren würden eine Vielzahl von Etymologien vermuten. So lasse sich tantra von tanu (Skrt. Körper), tantri (Skrt. erklären) oder tantri (Skrt. verstehen, begreifen) herleiten. Lediglich die Ableitung von tan sei unbestreitbar. Zu betonen sei ferner, dass sich bei den meisten Texten, welche aus westlicher Perspektive als ‘Tantras’ bezeichnet werden, sich selbst nicht als solche definieren (vgl. Urban, 1999, S.125ff.). Andererseits gäbe es in Indien tatsächlich tantrische Lehren (tanstrasastra). Doch wie könnte nun eine Definition von ‘Tantra’ wissenschaftlich beschrieben werden? Urban erklärt, dass es sich bei diesem Begriff nicht um eine singuläre Kategorie, sondern um eine übergeordnete Klassifikation verschiedener Merkmale und zugehöriger Untergruppen handele. Als tantrische Charakteristika können deshalb folgende verwendet werden: (1) sie sind nicht Teil des konventionellen hinduistischen Kanons, (2) sie enthalten spezielle Formen des Yoga, wie beispielsweise Kundaliniyoga, (3) sie sind theistisch und non-dual, (4) sie enthalten Theorien über die Natur des Klangs, sowie die Verwendung von Mantra, (5) sie leiten zur Verehrung von symbolischen Diagrammen (yantra) an, (6) sie betonen die Bedeutung des Guru, (7) sie bezeugen einen bipolaren Symbolismus von Gottheiten [Anm. d. Verf.: beispielsweise ShivaShakti], (8) es handelt sich um geheime Unterweisungen, welche einzig vom Guru an auserwählte Schüler weitergegeben werden, (9) sie beschreiben den rituellen Gebrauch von konventionell [Anm. d. Verf.: im Hinduismus] verbotenen Substanzen wie Eiern, Wein, Fleisch und Geschlechtssekret, (10) sie enthalten spezielle Initiationen (diksa), in denen weder die Kaste noch das Geschlecht des Sadhaka über dessen rituelle Teilnahme entscheiden (vgl. Gupta, Hoens; Goudriaan, Hindu Tantrism, Leiden, Brill, 1979, S.7ff.).
Über den historischen Ursprung des ‘Tantra’
Die Frage nach dem historischen Ursprung des ‘Tantra’ kann nicht eindeutig beantwortet werden. Es könne sich beispielsweise um einen alten Erd- oder Mutterkult handeln. Gemäß Urban seien die ältesten, historisch nachweisbaren tantrischen Schriften buddhistische, welche möglicherweise zu Beginn des 3. Jh. n. Chr. verfasst wurden. Tantrische Traditionen des Hinduismus hätten sich generell aus dem frühen ‘Shaktismus’, der Verehrung des weiblichen kosmischen Urprinzips entwickelt. In diesem sei ‘Shakti’ die Kraft, welche sich vielfältig in Gottheiten, wie Durga, Kali oder Tara manifestiere. Dieser Kult habe sich im 6. und 7. Jahrhundert über ganz Indien verbreitet und begründete die tantrische Tradition des Hinduismus, so Urban. Genaue Datierungen seien jedoch unsicher, wobei der Autor einen Höhepunkt „tantrischer“ Tradition im 11. Jh. n. Chr. vermutet. Dies könne an klassischen, in Sanskrit verfassten, tantrischen Texten wie dem Kularnavaratantra, dem Svacchandatantra oder dem Vijnanabhairava Tantra historisch
nachgewiesen werden. Diese seien in Kashmir, Bengalen, Orissa und Assam möglicherweise ab dem 9. Jh. n. Chr. verfasst worden und würden dort oftmals noch heute praktiziert (vgl. Durban, S.125ff.).
‘Tantra’ aus orientalistischer Betrachtungsweise des 19. Jh.
Bis zum Ende des 18. Jh. n. Chr. verstanden britische Orientalisten unter dem Begriff ‘Tantra’ keine spezifische Sammlungen von Texten. ‘Tantras’ verkörperten demnach vielmehr einen ‘degenerierten’ Hinduismus. Die reine, monotheistische Hindu-Kultur sei durch den perversen polytheistischen, tantrischen Kult verfälscht worden. Die tantrische Praxis sei ein zu verdammendes Ritual faulenzender, zügelloser Menschen, welche sich berauscht sexuellen Orgien hingeben würden. Ferner würden alle tantrischen Texte grundsätzlich eine einheitlich sinnlose Lehre enthalten, weshalb bereits das Studium zweier Schriften genüge. Ferner seien tantrische Techniken, wie „bedeutungslose Laute“ (bija mantra), als absurde „schwarze Magie“ bezeichnet. Im beginnenden 20. Jahrhundert hätten Orientalisten auf die noble, rationale Religion der „Vedas“ zurückgeblickt und diesem vergangenen goldenen das moderne schwarze Zeitalter der ‘tantrischen’, destruktiven Kali gegenübergestellt (vgl. Urban, 1999, S.126f.).
Sex und ‘Tantra’ in der britisch-viktorianischen Gesellschaft
Das Interesse an tantrischer Sexualität sei in der Prüderie der britischen Oberschicht sowie der Mittelklasse der viktorianische Ära begründet. So habe im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein reger nationaler Diskurs über sexuelle Sittlichkeit geherrscht. Dies illustriert Urban an populären, britischen Publikationen des 19. Jahrhunderts, wie der Psychopathia Sexualis (1886) von Richard von Krafft-Ebing. In vermeintlich medizinischem Interesse sei in diesen eine Vielzahl abnormaler sexuelle Verhaltensweisen dargestellt und indirekt eine Sexualnorm definiert. Übertragen auf die britisch viktorianische Betrachtung des ‘Tantra’ bedeute dies, dass jegliche sexuelle Perversion nicht nur in vermeintlich pathologischen Fällen, sondern ebenfalls in der hinduistisch tantristischen Identität Indiens gefunden werden konnte. So übertrug sich, laut Urban, die materialistische Überlegenheit der britischen Herrscher auf eine scheinbar moralische (vgl. Urban, 1999, S.130ff.).
‘Tantra’ und revolutionäre nationalistische Bewegungen des kolonialen Indiens
Die sexuelle Anstößigkeit des ‘Tantra’ habe nicht nur eine moralische Abwertung seitens britischer Autoritäten erfahren, sondern sei darüber hinaus als revolutionäre indische Gegenbewegung interpretiert worden. Europäische Kolonialisten hätten, gemäß Urban, bereits in Kenia sowie in Süd-und Nordamerika einen Zusammenhang zwischen unsittlichen Praktiken und subversiver Politik gegen die jeweilige Obrigkeit beobachtet. So befürchtet auch die britische Regierung im ‘Tantra’ ein aufständisches Potential. Das Bengali Journal veröffentlichte daraufhin 1905 einen Artikel, in dem ein vermeintliches Tantra die Opferung ‘weißer Gänse’ an die tantrische Muttergottheit Kali beschreibt. Diese solle ihren Verehrern die ‘eifersüchtigen Götter’ (asura) aus dem Land vertreiben. Zum Dank hierfür erhalte sie das Blut der
Fremden und ‘weiße Gänse’ als Opfergaben. Dieser Artikel lässt vermuten, dass in Bengalen kriegerische Gottheiten wie Kali oder Durga zur Zeit der Kolonialherrschaft besondere Verehrung erfuhren. Jedenfalls trat die britische Regierung mit entsprechender Furcht diesen vermeintlich sexuell verdorbenen und gewalttätigen, revolutionär nationalistischen ‘Tantrikern’ gegenüber, die sich scheinbar der britischen Moral und somit dem kolonialen Herrschaftsanspruch zu widersetzen schienen. Sir George MacMunn habe beispielsweise das ‘tantrische’ Ritual mit einer ‘Bombenverehrung’ verglichen, so Urban. Ferner habe ersterer behauptet, dass die ‘Brahmanen’ (brahmane ) hierbei als revolutionäre Aktivisten in Erscheinung treten würden, um die indische Bevölkerung zum Aufstand anzuleiten. In ähnlicher Weise hätten zeitgenössische Publikationen britischer Schriftsteller die sexuell Zügellosigkeit sowie die fanatische Verehrung kriegerischer Gottheiten in ausschweifender Weise beschrieben. Aus psychologischer Perspektive könne dies, gemäß Urban, als Projektion erachtet werden. Britische Autoren hätten demnach ihre eigenen Wünsche und Ängste in einem für sie exotischen Gegenüber gespiegelt (vgl. Urban, 1999, S.132f.).
Arthur Avalon und die Rationalisierung des ‘Tantra’
Wie Urban verlauten lässt, müsse Sir John Woodroffe als bemerkenswerter Pionier und Vater moderner tantrischer Studien bezeichnet werden. Dieser sei als Sohn eines britischen Generals, Absolvent der romanisch katholischen Oxford Universität, Professor für Recht sowie Richter des höchsten Gerichtshofes in Kalkutta eine ‘bi-kulturelle’ Persönlichkeit gewesen. Zum einen der öffentliche John Woodroffe, zum anderen der private ‘Arthur Avalon’, der sich der Erforschung des ‘Tantra’ verpflichtete. Woodroffe habe in seinen Publikationen eine reformierte Version des ‘Tantra’ der kritischen Betrachtungsweise der britischen Oriantalisten und Administrativen gegenübergestellt. Seine Mission war, gemäß Urban, die Rationalisierung des ‘Tantra’, dessen philosophische und intellektuelle Lehren Woodroffe betonte. Entgegen der orientalisitschen Konstruktion eines degenrierten Hinduismus habe dieser ferner die „tantrische“ Philosophie mit den„Veden“ gleichgesetzt, da sie beide die Einheit der physischen wie metaphysischen Welt betonen würden. Woodroffe sei in seiner Verteidigung des ‘Tantra’ jedoch noch weiter gegangen. In seinen Rezeptionen tantrischer Schriften habe dieser die philosophische Sprache des Sanskrit um Etymologien westlicher Wissenschaft, wie beispielsweise Evolution, Materie oder Energie vermischt. Desweiteren habe ‘Arthur Avalon’ das tantrische mit einem katholischen Ritual verglichen und meinte in einzelnen rituellen Teilelementen eindeutige Gemeinsamkeiten zu entdecken, so Urban. Aus diesen Beobachtungen ließe sich die Absicht Woodroffes erkennen, die tantrische Tradition der hinduistischen wie katholischen sowie der damaligen Wissenschaft gleichzusetzen und somit dem westlichen Verständnis zugänglich zu machen. Woodroffe habe also im ‘Tantra’ etwas dem Westen Bekanntes gesucht, um Vorurteilen entgegenzuwirken und die zuvor unbekannte Tradition ‘salonfähig’ zu machen. Der Autor gibt hierbei zu bedenken, dass Woodroffe ausgewählte tantrische Schriften rezipierte, deren Authenzität bezweifelbar ist. So könne das Mahanirvana Tantra, als Schrift des späten 18. Jahrhunderts, bereits westliche Philosophie und Moralvorstellungen der Kolonialherrscher reflektieren. Nichtsdestotrotz sei in der avalonischen Rezeption die Quintessenz der tantrischen Tradition enthalten, so Urban (vgl. Urban, 1999, S.134ff.).
Schlussfolgerungen
Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Begriff ‘Tantra’ eine Vielzahl von Phänomen beschreiben kann, deren Rezeption stark vom jeweiligen Betrachter abhängig ist. Dieser Text behandelte ausschließlich die Konstruktion hinduistisch tantrischer Tradition aus britischer Perspektive, doch ließe sich diese, laut Urban, auf westliche Rezeptionen Mircea Eliades, Giuseppe Tuccis oder Heinrich Zimmers übertragen. Um eine möglichst objektive Beschreibung „tantrischer“ Sachverhalte zu erreichen, dürfen diese deshalb nicht getrennt von ihrem historischen, politischen wie sozio-kulturellen Kontext betrachtet werden, da diese ebenso wandelbar sind wie die Gesellschaft, in denen sie konstruiert werden. Als Konsequenz hieraus müsse eine Definition von ‘Tantra’ ebenfalls dem jeweiligen Forschungsgegenstand angepasst werden (vgl. Urban, 1999, S.137f.).
Quelle: http://idealibrary.com (Religion, Vol.29, No.2, April 1999, Hugh B. Urban